Die Engelberger Leidhelgeli. Photographie und Totengedenken
Leidhelgeli, Sterbebildchen, Toten- oder Partezettel – wie auch immer sie in der jeweiligen Region heissen – sind eine Form des Totengedenkens. Der Brauch, zur Beerdigung oder dem Dreissigsten kleine Karten mit Bildmotiven und Angaben zur Person der Verstorbenen an Verwandte, Freunde und Bekannte zu verteilen, breitet sich im späten 18. Jahrhundert von Holland über Frankreich, das Rheinland, Bayern, Österreich und Südtirol allmählich in den katholischen Gebieten ganz Europas aus. Die Schweiz erreicht er Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Umweg über das grenznahe Tirol und ist hier 1851 erstmals in Graubünden nachweisbar. Die ältesten noch erhaltenen Engelberger Leidhelgeli stammen aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. In den vergangenen Jahren hat das Talmuseum eine umfangreiche Sammlung dieser Sterbebildchen zusammengetragen, archiviert und für familiengeschichtliche und andere Recherchen aufbereitet.
Historisch betrachtet, gehen die Sterbebilder aus einer Verschmelzung zweier ursprünglich getrennter Traditionen hervor: der des Totengedenkens und der des Andachtsbildes. Der Engelberger Ausdruck „Helgeli“ für „kleines (Heiligen-)Bildchen“ erinnert noch an diese Herkunft. Bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts tauchen in Holland erste Andachtsbilder auf, die auf der Rückseite handschriftlich mit biographischen Angaben verstorbener Personen versehen und als Sterbezettel verwendet wurden. Später vertrieben grosse internationale Verlage wie Benziger und Co. in Einsiedeln, die neben religiöser Literatur bereits Andachtsbilder in ihrem Programm führten, diese als Rohlinge zur Herstellung von Leidhelgeli. Die auf der Fronseite mit einem religiösen Motiv, meist einer Christus-, Marien- oder Engelsdarstellung, bedruckten Vorlagen wurden nach einem Todesfall von örtlichen Druckereien – J. Abächerli oder L. Ehrli in Sarnen, Engelberger in Stans, der Klosterdruckerei Engelberg – oder Papeterien wie der von R. Hess in Engelberg nach dem Wunsch der Trauerfamilien ausgestaltet.
Die Engelberger Leidhelgeli übernehmen im Lauf ihrer Geschichte eine Vielzahl unterschiedlicher Funktionen. Sie appellieren an die Trauergemeinde, an Angehörige, Freunde und Bekannte, für die Verstorbenen Fürbitte zu leisten, ihrer im Gebet zu gedenken und sie so auf dem Weg ins Jenseits zu unterstützen. Bis in 40er und 50er Jahre finden sich auf den Leidhelgeli Gebetstexte mit genauen Angaben zur Anzahl der Monate und Jahre, die der armen Seele des Verstorbenen im Fegefeuer erlassen werden, wenn jemand den Gebetstext in Erinnerung an sie spricht. Die Sterbebildchen bieten auch Gelegenheit für ein letztes – imaginäres – Zwiegespräch zwischen Lebenden und Toten. In Gedichttexten, die auf der Rückseite aufgedruckt sind, nehmen die Toten Abschied von den zurückbleibenden Lebenden, sprechen ihnen Trost zu, versichern, dass es ihnen nun im Jenseits besser gehe als zuvor und stellen ein Wiedersehen für das Ende der Tage in Aussicht. Umgekehrt schicken die Lebenden den Toten ein letztes Lebewohl auf den Weg, klagen über den plötzlichen Verlust und preisen den tugendhaften Wandel, den die Verstorbenen zu Lebzeiten gepflegt haben. Gleichzeitig sind die Helgeli ein Andenken, das Trauerfamilie und Dorfgemeinschaft helfen soll, den oder die Verstorbene als Person in Erinnerung zu behalten. Zu diesem Zweck dienen die Angaben auf der Rückseite der Helgeli, die die betreffende Person unverwechselbar machen – der Name, Geburts- und Todesdatum, Verwandtschaftsbeziehungen, Herkunfts-, Wohnort und Beruf – mehr als alles andere jedoch das Photo, das die verstorbene Person noch am Leben zeigt. Ende des 19. Jahrhunderts tauchen nämlich auf den Engelberger Leidhelgeli – neben den religiösen Bildmotiven – erstmals photographische Porträts der Verstorbenen auf, die in der Folge zu einem festen Bestandteil der Sterbezettel werden.
Im Lauf des 20. Jahrhunderts wird diese dritte Funktion der Helgeli, die persönliche Erinnerung an den oder die Tote, immer wichtiger – und mit ihr die Rolle, die das photographische Porträt des Verstorbenen spielt. Bis in die 20er Jahre werden die Photographien kleinformatig auf den Rückseite des Helgeli entweder als gerasterte Vorlage aufgedruckt oder als Originalphoto aufgeklebt. Dann jedoch vollzieht sich ein einschneidender Wandel, vielleicht der wichtigste überhaupt in der Geschichte der Sterbebilder: Im Lauf der 20er Jahre wandert nämlich das Porträt des Verstorbenen von der Rück- auf die Frontseite und verdrängt dort die traditionellen religiösen Bildmotive, was Folgen auch für den Herstellungsprozess hat. Statt der Andachtsbilder dienen neu die Photos selbst als Ausgangs- und Trägermaterial der Helgeli. Abhängig vom Bekanntheitsgrad der verstorbenen Person werden von lokalen Photoateliers wie Meuser, Trottmann, Hurschler und Bechter in aufwändiger Handarbeit jeweils bis zu Tausend Abzüge auf edlen Barytpapieren hergestellt und anschliessend von örtlichen Druckereien, u.a. der des Klosters Engelberg, rückseitig bedruckt.
Anhand einer Diashow sowie mehrer hundert Bilder und Texte aus den Beständen des Talmuseums bietet die Ausstellung auf drei Etagen einen Überblick über die Herkunft, die Entwicklung und die Funktionen der Engelberger Leidhelgeli, über ihre Aufbewahrungsorte und ihren Werdegang vom Herrgottswinkel ins Archiv. Sie zeigt, was für eine Fülle an Informationen die kleinen Bildchen in sich tragen: zur Engelberger Sozial- und Familiengeschichte, zu religiösen Sitten und Gebräuchen genauso wie zur Kleider- und Trachtenmode. Gleichzeitig bietet die Ausstellung eine kleine Photogeschichte des Tales. Sie führt an Material aus dem Archiv Jean Bechter vor, wie die Porträtaufnahmen für die Leidhelgeli entstanden sind, wie sie auf manchmal abenteuerliche Weise ihren Weg aus Familienalben auf die Sterbezettel – und von dort wieder zurück ins private Album – gefunden haben, und sie zeigt auch, wie die Machart der Porträts sich im Lauf der Zeit ebenso ändert wie der Anlass, aus dem die Menschen sich haben photographieren lassen. Zusammengenommen ergeben die einzelnen Teile der Ausstellung, die von dem Kultur- und Photohistoriker Dr. Matthias Christen kuratiert wurde und bis zum 1. Oktober im Talmuseum zu sehen sein wird, eine Familien- und Dorfgeschichte Engelbergs im Kleinformat.
Das Talmuseum nimmt nach wie vor gerne einzelne Leidhelgeli und ganze Sammlungen entgegen, um sie fachgerecht zu archivieren und für Recherchen zugänglich zu machen.