Haargenau

Haarig, haarsträubend, Haarspalterei, haargenau, Haare auf den Zähnen, enthaart, behaart, haarscharf, ein alter Zopf, Wir haben unser Ziel um Haaresbreite verfehlt, am Schopf gepackt!, um ein Haar, mit Haut und Haar, an den Haaren herbeigezogen….

Während den Sommermonaten 2021 wird das Tal Museum das «Haar» zum Ausstellungsthema machen.

Ausgangspunkt

für diese Auseinandersetzung mit einem eher ungewöhnlichen Rohstoff sind historische Artefakte: Schmuckstücke aus Haar und Erinnerungsgegenstände, hergestellt aus den Haaren verstorbener Familienmitglieder. Diese typischen Repräsentanten der Erinnerungskultur befinden sich in der Sammlung des Tal Museums.

Auf einem vergilbten Papiersteifen stehen die Worte: «Andenken an unser geliebtes Töchterlein Margritli Scheuber, 1913-1921». Die Erinnerungsworte sind in einem rechteckigen Schaukasten der Grösse 33,5 x 23,5 x 5,5 cm angebracht. In der Mitte des Kastens ist eine rund ausgeschnittene Portraitfotografie eines blonden, langhaarigen Mädchens aufmontiert. Den grössten Teil des Schaukastens füllt eine kunstvoll gearbeitete Trauerweide. Erst bei genauerem Betrachten entdeckt man das Material, aus dem das dreidimensionale Pflanzengebilde entstanden ist: Haar. Die Haare des in diesem Fall verstorbenen Mädchens Margritli Scheuber wurden kunstvoll geflochten und bilden zusammen mit vielen anderen Materialien (getrocknete Pflanzen, Stoffblumen, Pailetten, Fotografie) eine dreidimensionale Assemblage. Am auffälligsten ist das Flechtwerk aus dem Haar der Verstorbenen. Ihre Funktion hatten diese Kästchen als kleine Altärchen des Gedenkens für den häuslichen Gebrauch. Das Haar, dieser feine und äusserst haltbare Teil des Toten gab den Hinterbliebenen die Möglichkeit der Vergegenwärtigung des Entschwundenen „bis dann einst im bessren Leben, Wiederseh’n heilt unsren Schmerz“, wie es auf dem gewundenen Schriftband heisst. Die Schaukästen repräsentieren die Volksfrömmigkeit des 19. und 20. Jahrhunderts und hängen eng mit dem ausgeprägten Totengedenken der katholischen Glaubenswelt zusammen. Haare galten im 18. Jahrhundert als Sitz der Lebenskraft. Man glaubte, diese Kraft über den Tod hinaus konservieren zu können, indem man die Haare noch zu Lebzeiten abschnitt. Diese Ansicht führte dazu, dass kunstvoll geflochtene Haare vor allem zur Zeit des Biedermeier als ein sehr persönliches Geschenk wahrgenommen wurden – es entstand die sogenannte Haarkunst. Um Erinnerungen an geliebte Personen – über Distanzen und über den Tod hinaus – zu bewahren, war die Haarkunst als Liebesbeweis und Totengedenken beliebt. Broschen, Bilder, Sturzgläser oder gar Ansichtskarten mit Haaren konservierten die Erinnerung an den ursprünglichen Träger und bewahrten sie damit vor dem Vergessen.

Heute ist diese Art Memorialkultur aus Menschenhaar kaum noch bekannt. In der Sammlung des Tal Museums befinden sich einige solcher kunstvoll gearbeiteten Haarbilder. Sie bilden den Ausgangspunkt der Ausstellung «Haargenau!».

«Haargenau» - weil die Arbeit mit dem Werkstoff Haar präzises handwerkliches Geschick erfordert und weil das Haar bei genauem Hinsehen viel Intimes (bis hin zu DNA) über den Besitzer oder die Besitzerin preisgibt.

Haar fasziniert und irritiert. Es kann die die Lebenskraft des Menschen symbolisieren oder als zentraler Träger erotischer Botschaften fungieren und am Schluss doch nur Abfall sein. Diese Umstände nutzen Künstlerinnen und Künstler heute noch/wieder in ihren Arbeiten. Die Ausstellung «Haargenau!» möchte auf die Tradition des Gestaltens mit Haar eingehen und zeitgenössische Positionen mit und ums Haar zeigen.

Teilnehmende KünstlerInnen

Die in der Ausstellung vertretenen KünsterInnen Claudia Vogel, Alexander Moser und Sander Kunz arbeiten mit der akkuraten und fast vergessenen Technik der Haarbearbeitung und -gestaltung. Sie reichern alte Traditionen und vergessenes Know-how mit neuen Inhalten und Ideen an. Monika Feucht, Matthias Maeder, Miranda Fierz und Karin Henrich nähern sich ihn ihren Arbeiten auf Papier, Leinwand und Video der Körperlichkeit, Schönheit und verstörenden Materialität und Haptik des Haares an. Céline Arnould experimentiert mit ihren "Liaison" mit Haar und Porzellan an der Schnittstelle zwischen Design und Kunst.

Ein Wagnis

Die Ausstellung ist ein Wagnis, denn die Erfahrung aus unserer Vermittlungsarbeit zeigt: «Haar» als Objekt der Kunst löst ganz unterschiedliche Reflexe aus. Positive wie Abweisende. Historische wie zeitgenössische Werke werden bei den Besucherinnen und Besuchern Reaktionen auslösen. Faszination für das alte Handwerk? Unbehagen ob der Arbeit mit etwas so Körperlichem und Lebendigem? Diesem Umstand möchte die Ausstellungleitung Rechnung tragen: Vermittlungsangebote wie Rundgänge durch die Ausstellung, Workshops mit Experten und Vorträge rund ums Thema «Haar» ergänzen das Angebot über die Sommermonate 2021.